Vor sieben Jahren zogen Anne (32) und Florian (32) aus Jena nach Berlin. Nun kehren sie, gemeinsam mit ihren Kindern, dem Großstadtdschungel den Rücken.

Hupkonzert und Morddrohung

Wie lange dauert ein Umzug in Berlin? Vierzehn Hupkonzerte, drei Mittelfinger, eine Morddrohung und fünf Bier vom Kiosk nebenan. Entnervt und erleichtert knallt Florian Förster die Tür vom Miet-Lkw zu. Er startet die Zündung und wischt sich noch kurz den Schweiß von der Stirn. „Los geht’s. Seid ihr bereit für die Provinz?“ Ein bisschen Wehmut und ein bisschen Vorfreude wehen durch den Spalt des offenen Fensters.

Sieben Jahre ist es her, dass der 32-jährige Florian und seine Freundin Anne Jena in Richtung Berlin verlassen haben. Wegen des Studiums und wegen der Freiheit. Mit Mitte zwanzig erdrückte sie die gute Bürgerlichkeit kleiner Städte.

Zwischen Selbstverwirklichung und Individualismus

So wie ihnen geht es den meisten 20- bis 35-Jährigen. Sie gehören der Generation Y an, die als Teenager die Jahrtausendwende erlebte. Die meisten wuchsen ohne materielle Sorgen und wohlbehütet auf. Laut Auswertungen des Zukunftsinstitutes ist keiner anderen Generation Selbstverwirklichung und Individualismus so wichtig. Kein Wunder, dass die jungen Leute in die sogenannten Schwarmstädte ziehen. Städte, die eine sehr gute Infrastruktur, vielfältige kulturelle Angebote, eine starke Wirtschaft und herausfordernde Ausbildungsmöglichkeiten haben. Ländliche Gegenden kommen gegen dieses Aufgebot nicht an und verlieren wertvolle Einwohner.

Wir hatten keine Kohle, aber eine verdammt gute Zeit.

Florian über die Zeit in Berlin

Während Florian auf die Autobahn auffährt und Anne aus dem Fenster schaut, erzählen sie, wie es war in den ersten Jahren in Berlin. Anne und er haben in einem WG-Zimmer gewohnt, das sie schnell über Freunde und Facebook gefunden haben. Jeden Abend waren die beiden in einem anderen Restaurant essen. An den Wochenenden haben sie die Clubs unsicher gemacht, Ausstellungen besucht oder einfach nur mit ihren Bekannten aus der ganzen Welt gekocht. „Es war cool, wir hatten keine Kohle, aber eine verdammt gute Zeit“, sagt Florian grinsend und streicht sich durch seine blonde Surfermatte.

Jena ist entspannter für Familien

Irgendwann war Baby Koa unterwegs. Da zeigten sich die Defizite der Spreemetropole. „Die Stadt ist überlastet. Erst haben wir ewig nach einer annehmbaren Wohnung gesucht. Anne fand keine Hebamme.“, erzählt der junge Vater und rollt mit den Augen. „Die Situation war stressig und dann noch die Sache mit dem Elterngeld: Sieben Monate mussten wir auf die Bearbeitung des Elterngeld-Antrags warten. Zum Glück hatten wir etwas gespart.“ Auch der schnodderige Berliner Umgangston, die großen Entfernungen und der viele Verkehr zehrten an den Nerven. Die Familie war zu weit entfernt, um helfend unter die Arme zu greifen. „In die Clubs lassen sie dich mit Baby auch nicht mehr rein“, lacht Florian.

Nach zwei Jahren fiel der Entschluss, dass sie Berlin den Rücken kehren. Leicht gemacht haben sich die beiden die Entscheidung nicht. Die Möglichkeiten, die Berlin bietet, gibt es in kleineren Städten nur bedingt. Nach all den Jahren Hauptstadt lassen Flo und Anne auch viele lieb gewonnene Freunde zurück. „Wir wollten mit unserem Nachwuchs wieder in die Nähe unserer Familien“, sagt Anne und fügt hinzu: „Das war wohl der ausschlaggebende Punkt. Berlin ist schön. Und anstrengend.“

Zugvögel

Viele junge Familien, die vorher aus Gründen der Selbstverwirklichung nach Berlin zogen, ergreifen mittlerweile wieder die Flucht. Vor allem das angrenzende Bundesland Brandenburg profitiert von den Zugvögeln. Florian und Anne wollten aber nicht nach Brandenburg. Ihr Ziel war Thüringen, ihre Heimat. Damit trotzen sie den aktuellen statistischen Auswertungen, nach denen das Bundesland in der Mitte Deutschlands 2018 über 3800 Einwohner an andere Bundesländer verlor. In den Jahren zuvor waren es noch mehr. Das Thüringer Landesamt für Statistik prognostiziert sogar, dass die Zahl der Privathaushalte bis 2040 in Thüringen um zwölf Prozent sinken wird.

In kreativen Berufen ist das Angebot in der kleinen Städten oft begrenzt

Anne und Florian geben nichts auf Statistiken. Beide haben den Vorteil eines zukunftsträchtigen Berufs. Anne ist Grundschullehrerin. Florian unterrichtet Sport und Biologie am Gymnasium. „Uns spielt der Lehrermangel in die Hände“, sagt Florian. Besonders in den ländlichen Gebieten gibt es laut  Thüringer Kultusministerium zu wenige Bewerbungen auf offene Stellen. In anderen Berufen sind die Chancen, einen passenden Job zu bekommen geringer. Vor allem im kreativen Bereich ist die Auswahl nicht üppig. Da muss man seine eigenen Ansprüche zurückschrauben und mutig ins kalte Wasser springen. Florian berichtet über eine Bekannte, die in einer Agentur für Public Relations in Berlin gearbeitet hat. Früher organisierte sie Veranstaltungen mit den Stars und Sternchen dieser Welt. Jetzt, nach ihrer Ankunft in der Heimat arbeitet sie in der Firma ihrer Eltern und verantwortet Messen im Baustoffhandel. Gerade hat sie neue Visitenkarten gestaltet, obwohl die alten gerade mal erst zehn Jahre auf dem Buckel hatten. Kreativität muss man in der Provinz eben überall beweisen.

Der Sonnenuntergang über Jena bedeutet auch ein Stück Heimat für Flo und Anne.
Foto: © Bernd Wiedmann

Vorerst hat sich die kleine Familie für ein Leben in der Stadt an der Saale entschieden. Jena ist eine Schwarmstadt im Kleinformat. 2014 lag der Anteil der 20- bis 35-Jährigen, die in Jena leben bei über 30 Prozent. Es gibt eine große Universität. Das wirtschaftliche Zugpferd Carl Zeiss investiert gerade über 300 Millionen Euro in den Standort Jena. Der Nachteil, die Mietpreise liegen mit denen Berlins fast gleich auf, wie ein Blick in den aktuellen Mietpreisspiegel zeigt.

Florian erklärt, warum die kleine Familie trotzdem nicht ins benachbarte Gera, wo Annes Eltern leben, gezogen ist: „Jena war ein guter Kompromiss. Die Uni und die vielen ansässigen Unternehmen machen die Stadt jung und lebendig. Das Flair ist weltoffen und doch ein bisschen provinziell. Das gefällt uns. Trotzdem sind die Großeltern nah, nur 30 Minuten fährt man mit dem Auto nach Gera. Und die Natur rings rum ist wunderschön.“

Endlich zuhause angekommen

Florian rangiert den Umzugs-Lkw durch die engen Straßen der Jenaer Innenstadt. Vor der neuen Wohnung strahlen ihn die Umzugshelfer an: eine große Schar an Familie und alten Freunden. Sie freuen sich über die Rückkehr der Zugvögel.  
Ein Umzug in Jena dauert genauso lang wie in Berlin: 20 Umarmungen, eine Schüssel Kartoffelsalat von Mutti und ein Willkommensgeschenk der neuen Nachbarn.

Nun wird eine Familie mehr die Auswertungen des Thüringer Landesamtes für Statistik im nächsten Jahr aufmotzen. Der Anfang ist gemacht.

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